Uwe Günther (BPM): DIe Inflation und der Ketchupflaschen-Effekt

12.10.2021 –

„Lange kommt gar nichts, dann plötzlich alles auf einmal“

Den Ketchupflaschen-Effekt hat wahrschein-lich jeder von uns schon in unterschiedlichen Situationen erlebt – nicht nur bei dem missglückten Versuch, eine Speise geschmack-lich „aufzuwerten“. Das komplexe Diffusions-verhalten von Flüssigkeiten wie Ketchup wurde übrigens erstmals von dem österreichischen Physiker Karl Weissenberg (1893 – 1976) erforscht und ist für technische und naturwissenschaftliche Anwendungen von Bedeutung.

Jeder, der sich seit längerer Zeit mit Finanzmärkten und Notenbankpolitik beschäftigt hat, weiß, mit welchen Anstrengungen die großen Notenbanken nach der Finanzkrise 2008/2009 versucht haben, ein ökonomisch gesundes Maß an Inflation zu erzeugen. Sowohl die US-Notenbank FED als auch die Europäische Zentralbank EZB streben seit geraumer Zeit eine jährliche Inflationsrate von 2 % an. Dieser Wert gilt allgemein als guter Kompromiss zwischen relativer Preisstabilität und einem den Konsum und Investitionen fördernden Preisanstieg. Beide Notenbanken, vor allem jedoch die EZB, haben dieses Inflationsziel in diesem Zeitraum meist unterschritten.

Um beim Bild der Ketchupflasche zu bleiben: Die Notenbanken haben kräftig und ausdauernd auf den Flaschenboden geschlagen, aber der Ketchup staute sich aufgrund seiner besonderen Fließeigenschaften vor dem Flaschenhals und nur sehr wenig davon gelangte auf den Teller. Erst mit den massiven fiskalischen und monetären „Schlägen“ von Regierungen und Notenbanken ab dem 2. Quartal 2020 (den riesigen Konjunktur- und Hilfsprogrammen, die in Folge der Corona-Pandemie weltweit eingeführt wurden), scheint sich der Rückstau in der Ketchupflasche gelöst zu haben. Was allerdings dazu führte, dass ungefähr seit Mai 2021 deutlich mehr Ketchup (= Inflation) aus der Flasche kommt, als gewünscht ist (und für eine gesunde Ernährung ratsam erscheint).

Inflation: nur temporäre Effekte oder doch „hier, um zu bleiben“?

Verfolgt man die zahlreichen Wortmeldungen und Verlautbarungen der Notenbanken zu den jüngsten Inflationssprüngen, wird immer wieder darauf hingewiesen, dass es sich um eine vorübergehende Entwicklung handelt, die keinen Anlass für ein entschlossenes geldpolitisches Handeln wie zum Beispiel die Reduzierung oder Beendigung der Kaufprogramme für Anleihen oder gar Leitzinserhöhungen darstellt.

Die Haltung der Notenbanken wird an den Finanzmärkten zunehmend kritisch betrachtet. Vorherrschend ist inzwischen die Sorge, dass zu lange damit gewartet wird, die Liquiditätszufuhr zu drosseln und der dynamische Inflationsanstieg letztlich unkontrollierbar wird. Das Hauptargument der Notenbanken für ihre Zurückhaltung, statistische Basiseffekte aus den starken Rückgängen der Inflationsraten in 2020, ist tatsächlich aber zeitlich begrenzt. Vor allem basieren sie auch auf den extrem niedrigen Energie- und Rohstoffpreisen im vergangenen Jahr.

Wir sehen inzwischen eine Reihe von inflationstreibenden Einflüssen, deren zeitliche Ausdehnung nicht gut vorhersagbar ist und die uns geeignet erscheinen, für längere Zeit starke Wirkung auf die Inflation zu entfalten. Dies möchten wir an einigen Bespielen verdeutlichen:

Politische Entscheidungen, wie zum Beispiel der BREXIT oder auch die neuen exzessiven Ausgabenprogramme der US-Regierung, wirken oft zeitversetzt. Leere Supermarktregale und Hamsterkäufe von Kraftstoffen in Großbritannien sind nur zum geringsten Teil der Corona-Pandemie geschuldet, auch wenn die Regierung dies gerne anders darstellt. Hier schlagen inzwischen sehr deutlich die Folgen der restriktiven Einwanderungspolitik nach dem Verlassen der EU als akute Störung des britischen Arbeitsmarktes durch. Zum Beispiel hinterlässt der Wegzug von Zehntausenden Arbeitskräften, die vorwiegend aus osteuropäischen Ländern stammten, in der Logistikbranche oder der Lebensmittelindustrie schmerzhafte Lücken, die erst jetzt mit zeitlicher Verzögerung und mit großer Wucht in das öffentliche Bewusstsein dringen. Die Ursache „BREXIT“ ist ein speziell britisches Problem. Allerdings lässt die demografische Entwicklung der meisten größeren Industrieländer mit einer alternden Bevölkerung und viel zu wenigen nachrückenden jüngeren Arbeitskräften bereits erahnen, welche Lücken in der Zukunft entstehen werden. Eine massive Verknappung von Arbeitskräften wird nie ohne Folgen für die Lohnkosten bleiben, die immer noch als wirksamster Auslöser einer hartnäckigen Inflationsentwicklung gelten (Stichwort: „Lohn-Preis-Spirale“).

Klimaveränderung und Naturkatastrophen zeigen immer deutlicher ihre ökonomischen Folgen. Brasilien erlebt beispielsweise gerade, wie sich extrem verändertes Wetter und rücksichtsloser Umgang mit natürlichen Ressourcen in der Agrarwirtschaft des Landes auswirken. Flächenbrände, extreme Trockenheit und zu guter Letzt eine antarktische Wetterfront, die Teile des Landes unter eine dicke Frostschicht zwangen, vernichteten erhebliche Teile der erwarteten Ernten. Die Austrocknung von Flüssen und Seen wiederum führt zusätzlich zu starken Störungen der Energieversorgung aus Wasserkraftwerken, mit denen Brasilien mehr als 60 % seines Strombedarfs deckt. Um die globale Bedeutung vollständig erfassen zu können sei erwähnt, dass Brasilien zum Beispiel drei Viertel des weltweit konsumierten Orangensafts, die Hälfte des Zuckers, ein Drittel des Rohkaffees und ungefähr ein Drittel der Futtermittel für die Tierzucht exportiert. Angebotsausfälle in solcher Größenordnung sind am Weltmarkt nicht einfach zu kompensieren, so dass wir sicher annehmen dürfen, durch die Verknappung auf allen Stufen von Verarbeitung und Handel zwangsläufig weiter steigende Lebensmittelpreise zu sehen.

Störungen in Lieferketten. Schon in unserem Rückblick auf das 1. Quartal 2021 hatten wir die weitreichenden Folgen kleiner Störungen in den internationalen Lieferbeziehungen und deren Folgen am Beispiel des im Suezkanal havarierten Containerschiffs thematisiert. Inzwischen zeigen sich die von unterschiedlichsten Ursachen ausgehenden Störungen (regionale Lockdowns wegen neuerlicher Covid-19 Ausbrüche, leere Vorratslager, fehlende LKW-Fahrer) im Fehlen einer Vielzahl unterschiedlichster Importprodukte oder von Energie (Erdgas) und verschiedenen Rohstoffen. Egal ob Bauholz, Bekleidung oder Halbleiter – Importeure haben, selbst wenn sie ihre Waren tatsächlich irgendwo zu (meist hohen) Preisen bekommen, oft zusätzlich noch ein Transportproblem. So hat die extreme Knappheit von Containern, Schiffsraum und Hafenkapazitäten inzwischen dazu geführt, dass die Frachtraten von China nach Europa ungefähr achtmal höher sind als im langjährigen Durchschnitt und sich alleine seit April mehr als verdoppelt haben. Die Weitergabe höherer Erzeugerpreise (inzwischen schon oft im zweistelligen Prozentbereich) an die Endverbraucher halten wir für eine ziemlich sichere Annahme in der aktuellen Situation.

Die Verbraucherpreise werden weiter steigen – auch gegen den Willen der Notenbanken

Wir stellen uns darauf ein, dass sich die höheren Inflationsraten als langlebiger erweisen werden, als dies in Kreisen der Notenbanken offiziell erwartet wird. Aller Voraussicht nach werden die Notenbanken ihre Gratwanderung fortsetzen und weiter zwischen einer an angemessener Preisstabilität orientierten Geldpolitik und ihrem inoffiziellen Nebenziel, den gewaltigen Geldbedarf von Staaten und öffentlichen Haushalten mit möglichst günstigen Finanzierungsbedingungen zu sichern, lavieren.

Während die Europäische Zentralbank Inflationssorgen weiterhin stoisch mit dem Verweis auf vorübergehende Effekte zu beruhigen versucht, hat zumindest die US-Notenbank FED jüngst ihre Bereitschaft erkennen lassen, sich in absehbarer Zeit der Realität zu stellen. Es verdichten sich die Signale, dass im US-Dollarraum voraussichtlich ab Anfang 2025 mit einer behutsamen Reduzierung der Aufkäufe von Anleihen begonnen wird. Dies ist noch nicht mit einem echten Abschied von der langjährigen Niedrigzinspolitik (oder mit einer entschiedenen Bekämpfung von Inflation) zu verwechseln, sondern wird lediglich durch verringerte Liquiditätszufuhr den Anstieg der Geldmenge verlangsamen.

Wir müssen allerdings damit rechnen, dass ein solcher Richtungswechsel, so wie schon bei früheren Gelegenheiten auch und nicht nur bei Anlagen in US-Dollar zu einer deutlich gesteigerten Nervosität an den Finanzmärkten führen wird.

Unverändert spielen festverzinsliche Anlagen in unserer Portfoliogestaltung keine bedeutende Rolle. Neben deren fehlender Attraktivität aufgrund meist negativer realer Renditen halten uns auch drohende Kursverluste bei steigenden Nominalzinsen davon ab, über ein unbedingt notwendiges Maß hinaus in Anleihen zu investieren. Aktienmärkte werden aus Bewertungsgründen (niedrigere Barwerte zukünftiger Gewinne wegen höherer Zinsen) anfänglich Schwierigkeiten mit der Erwartung steigender Zinsen bekommen. Größere Schwankungsbreiten dürften die Folge sein. Alternative Anlageformen oder spezielle Aktienstrategien, die einen besonderen Fokus auf die Begrenzung von Abwärtsrisiken haben, erhalten damit eine nochmals gesteigerte Bedeutung.

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